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Der Waldsassener Bibliotheksaal im Werk von Rolf Escher

Bibliothek ohne Leser 

Rolf Escher: Kloster Waldsassen, Bibliothekssaal, 1996, Bleistiftzeichnung auf hellgrauem Bütten, 38 x 28 cm.
Rolf Escher: Kloster Waldsassen, Bibliothekssaal, 1996, Bleistiftzeichnung auf hellgrauem Bütten, 38 x 28 cm.

Keine Schritte auf dem Parkett, das unter jeder Belastung bereitwillig knarren würde. Kein Rascheln von Papier. Nicht der dumpfe Klang, der ertönt, wenn ein in Leder gebundener Foliant auf ein Pult gewuchtet wird. In dem menschenleeren Raum herrscht völlige Stille. Buchrücken steht an Buchrücken, unbewegt, unbenutzt. Die einzige, freilich unmerkliche (und ohnehin von niemandem bemerkte) Bewegung ist das Wandern der Lichtstrahlen, die an sonnigen Nachmittagen in den Saal fluten und sich darin entlangtasten. Keine Bibliothekarin räumt in den Regalen herum. Kein Leser sitzt an einem aufgeschlagenen Buch und kritzelt oder tippt irgendwelche Notizen. Ja, für ihn gäbe es nicht einmal ein Schreibpult.

Das ist der Normalzustand in der Stiftsbibliothek Waldsassen. Gewiss, während der Öffnungszeiten (in der jetzigen Wintersaison während dreier Stunden am Tag) wird der Saal zum Objekt der Betrachtung. Dann umrunden Touristen auf Filzpantoffeln im Schlepptau einer Führerin den Saal und bestaunen Karl Stilps Atlanten. Aber bald kehrt wieder Stille ein, allenfalls einmal durchbrochen durch das Knacken von arbeitendem Holz.

Kein Mensch wird diese Atmosphäre je ganz authentisch erleben können. Denn beinahe wie in einem quantenphysikalischen Experiment würde die Anwesenheit des Beobachters das Beobachtete verändern. Eine Teilhabe an dem stummen, bewegungslosen Eigenleben der Bibliothek ermöglichen aber die Grafiken von Rolf Escher.

„Bücherzeiten“

Kürzlich wurde im Blog „Oberpfälzer Klöster" bereits eine 1999 entstandene Zeichnung der Amberger Jesuitenbibliothek gezeigt. In Waldsassen schuf Rolf Escher 1996 mehrere Werke für seinen Zyklus „Bücherzeiten“. In einer E-Mail teilte er dazu mit: Dieses Thema habe ich seit den achtziger Jahren zeichnerisch bearbeitet und auf meinen vielen Bibliotheksreisen auch zahlreiche Klosterbibliotheken aufgesucht, selbstverständlich durfte Waldsassen nicht fehlen.“ Mehrere, aber nicht alle dabei entstandenen Blätter wurden dann in den Jahren 2000 bis 2003 in der Wanderausstellung „Bücherzeiten“ präsentiert und in einem Katalogband veröffentlicht.

Rolf Escher: „Zwiegespräch in Waldsassen“, Kreidelithographie von 3 Steinen, 44 x 31 (Motiv) auf 57 x 42 cm , Papier (Hahnemühle Kupferdruckbütten), Auflage: 75 Exemplare.
Rolf Escher: „Zwiegespräch in Waldsassen“, Kreidelithographie von 3 Steinen, 44 x 31 (Motiv) auf 57 x 42 cm , Papier (Hahnemühle Kupferdruckbütten), Auflage: 75 Exemplare.

„Zwiegespräch in Waldsassen“

Bücher, die niemand liest, sind keine Kommunikationsmittel mehr, sondern stumme oder stumm gewordene Zeugen einer Vergangenheit, in der sie noch etwas zu sagen hatten  ein Thema, mit dem sich in ganz anderer Weise auch der Künstler Pascal Convert auseinandersetzt.

Eines von Eschers Mitteln, dies ins Bild zu setzen, ist die Menschenleere seiner Bibliotheksdarstellungen. Gerade in Waldsassen ist das besonders stimmig. Aus funktionaler Perspektive ist der Saal keine Bibliothek mehr, sondern ein Bibliotheksmuseum. Dieses lockt durch seine einzigartige Gestaltung Schaulustige an, aber keine Leser.

Escher nun „reanimiert die vorgeblich abgestorbene Dingwelt, indem er Objekte nicht einfach abbildet, sondern sie wie menschliche Individuen porträtiert und so vergegenwärtigt“ (Lüddemann, S. 24).

In der Lithografie „Zwiegespräch in Waldsassen“ und in der Vorstudie dazu sind es die Holzskulptur und die Foliobände aus dem 18. Jahrhundert, Waldsassener Beispiele des „Übersehenen und Vergessenen“ (ebd., 25), die zum Leben erweckt werden. Die Darstellung zeigt „eine stumme Unterhaltung zwischen einer skulpierten Wandvorlage und einem alten Bücherregal mit Folianten. In der prunkvollen Stiftsblbliothek der Zisterzienser-Abtei wählt der Künstler nicht etwa die touristische Hauptsehenswürdigkeit des großen Saales mit seinen zehn prominenten, allegorischen Trägerfiguren, sondern eher einen abseitigen, nischenhaften Blick auf ein scheinbar randständiges Detail, das er in seiner Bildregie bildfüllend komponiert. Escher setzt in seiner Komposition die Figur effektvoll als dunkle Silhouette vor das helle Fenster, so dass sie wie ein zur Salzsäule erstarrter Bibliothekar anmutet. So charakterisiert Markus Müller (S. 14) die Farblithografie.

Und Paul Raabe schrieb über die gezeichnete Version: „Spätestens bei der Betrachtung dieses Blattes ... sieht man, dass Rolf Escher nicht nur Bücherorte zeichnet, sondern dass es die Bücherzeiten sind, die ihn bei seinen Reisen durch die alten Bibliotheken in den Bann ziehen. ... die Bücherzeiten, wie sie der Künstler erlebt, sind weit entrückt von der Gegenwart, sie sind Vergangenheit, untergegangene Zeit. So steht hinter der realistischen Wiedergabe die unergründlich vergangene Zeit.“ (S. 55)

 

Herrn Prof. Escher danke ich herzlich für die Überlassung der Bilddateien!

 

Lit.:

Escher, Rolf: Bücherzeiten. Gezeichnete Entdeckungen. Zeichnungen, Aquarelle, Druckgrafik, Bönen 22001.

Lüddemann, Stefan: Die wiedergefundene Kultur. Rolf Eschers Bildkunst als Gedächtnisprojekt, in: Escher, Rolf: Lebenslinien (Hg. Thomas Hengstenberg) Dortmund 2016, 23–31.

Müller, Markus: Die stille Welt des Rolf Escher. Die Wahlverwandtschaften eines Künstlers, in: ebd., 13–21.

Raabe, Paul: Rolf Eschers Bücherzeiten, in: Dialog mit Bibliotheken 16 (2004) H. 2, 54–61.

Timmermann, Birte: Vom Bewahren des Schönen. Der Zeichner Rolf Escher in der Staatsbibliothek zu Berlin, in: Bibliotheksmagazin 3/2007, 5–8.

 

Weitere Bilder aus der Serie:

 

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