
Heutzutage fungiert der Waldsassener Bibliotheksaal fast ausschließlich als Bibliotheksmuseum und als Bücherspeicher für den Altbestand der Zisterzienerinnenabtei. Das war nicht immer so. Nachdem er im Zuge der Säkularisation ausgeräumt worden war, ging er in den Besitz des Kattunfabrikanten Rother über, der gern die Schnitzwerke losgeworden wäre, um den Saal besser in seinen Betrieb integrieren zu können. Zum Glück wurde er daran durch wiederholte behördliche Restriktionen gehindert. Letztlich war es der ausdrückliche Wunsch König Ludwigs I., dem bis heute der Erhalt der Bibliothekseinrichtung zu verdanken ist.
Im Jahr 1864 übernahmen Seligenthaler Zisterzienserinnen die Anlage. Für ihre Zwecke war die ehemalige Bibliothek eine willkommene Örtlichkeit für größere Feierlichkeiten. Ein Bericht in der „Cistercienser-Chronik“ aus dem Jahr 1890 mag als Beispiel dienen. Am 29. September beging man der 25-jährige Jubiläum des „Erziehungs-Institutes“, eines Komplexes von mehreren Schulen und einem Internat für die weibliche Jugend. Zunächst wurde in der Pfarrkirche ein Hochamt gehalten.
„Nachher versammelten sich alle Zöglinge in dem grossen schön dekorirten Bibliotheksaal, in dem bald darauf auch der hochw. Herr Prälat [Andreas Senestrey, Stiftsdechant der Alten Kapelle in Regensburg] mit der übrigen Geistlichkeit, den Oberen des Hauses und den Lehrerinnen erschienen. Im Vordergrunde des Saales prangte ein lebensgrosses Herz-Jesu-Bild ganz von Blumen und Grün umgeben; auf beiden Seiten desselben standen zwei lebensgrosse Statuen der hl. Erzengel Gabriel und Raphael. Oben auf der Gallerie rechts war das Bild des jetzigen hochw. Bischofes von Regensburg [Ignatius von Senestrey], dem Wiederbegründer des Klosters angebracht, vis-à-vis davon, also links das des Prälaten Dr. Andreas Senestréy, des hohen Gönners und Wohlthäters desselben. Gegen die Mitte des Saales schmückte das Geländer der Gallerie ein schönes Oelgemälde der unbefleckt empfangenen Jungfrau Maria, von einer hiesigen Klosterfrau gemalt, und dieses umgaben in einem Kranze die vielen mit Blumen gezierten Photographien der Zöglinge unseres Institutes aus jedem Jahrgange seit 25 Jahren. Das geschnitzte Geländer der Gallerie war rundum mit schönen Tapeten behangen auf denen Kränze und Fähnchen mit der Zahl 25 geschmackvoll angebracht waren.
Im Saale wurde die Festlichkeit mit einer musikalischen Ouverture eröffnet, dann der Herr Prälat in einer Ansprache begrüsst und ihm gedankt für das dem Kloster und Institute seit 25 Jahren bewiesene Wohlwollen, und über den abwesenden Gründer Gottes Schutz, Segen und ewiger Lohn herabgefleht. Hierauf wurde ein Festchor gesungen, dann erschien in der Person eines Zöglings der Erzengel Michael und hielt eine einleitende Ansprache. Nun wechselten Musik, Deklamation und Gesang mit einander ab. Nachdem das Programm erschöpft war, hielt der hochw. Herr Prälat eine rührende Ansprache, worin er seine väterliche Gesinnung gegen das Kloster aussprach und die früheren und gegenwärtigen Zöglinge ermahnte, den guten Grundsätzen treu zu bleiben, die ihnen hier eingepflanzt wurden. [...] Nach dem Abendessen versammelten sich wieder Alle im Bibliotheksaal, wo um 7 Uhr das Schauspiel ‚Die hl. Ida von Toggenburg‘ von den Zöglingen aufgeführt wurde. [...]“
Der Text ist auch geschlechtergeschichtlich aufschlussreich. Die Nonnen, also die Trägerinnen der Institution und die Hauptakteurinnen in der Mädchenbildung, bleiben anonymisiert im Hintergrund. Namentlich genannt wird in dem Textausschnitt nur der Prälat. Hielt die Begrüßungsansprache die Priorin Cäcilia Schmid oder stand ihr das gar nicht zu – hatte diese Aufgabe der Beichtvater Michael Lorenz? Die Weiblichkeit der Schülerinnen wird grammatisch dadurch verschleiert, dass im damaligen Sprachgebrauch jede von ihnen ein „Zögling“ war.
Ein anderes interessantes Detail ist der Hinweis auf die „Photographien der Zöglinge unseres Institutes aus jedem Jahrgange seit 25 Jahren“. Das Kloster dürfte also zum Kundenkreis des ersten Waldsassener Fotografen Johann Baptist Giehrl gehört haben, der hier von 1863 bis 1870 ein Fotostudio unterhielt.
Zahlreiche weitere Belege zur Nutzung der Bibliothek als Festsaal lassen sich dem Priorats-Tagebuch im Waldsassener Klosterarchiv (Chron 1ff.) entnehmen, das nicht nur für diese, sondern auch für zahlreiche andere Fragestellungen eine bedeutende kloster- und lokalgeschichtliche Quelle darstellt. Im Fotoarchiv der Abtei dürften sich zahlreiche Bildquellen von ähnlichem Wert auswerten lassen.
Lit.:
Cistercienser-Chronik 2 (1890) H. 22, 189f.
Malzer, Christian/Schrott, Georg: Bibliotheksgeschichte des Klosters Waldsassen, in: Schrott, Georg (Hg.): Die Stiftsbibliothek in Waldsassen. Untersuchungen zu Geschichte, Bestand und Rezeption (Vita regularis. Abhandlungen 86), Münster 2024, 3–49 (zur Nutzung als Festsaal: S. 40).
Sparrer, Johann Baptist: Das Erziehungs-Institut in dem Kloster der Cistercienserinnen zu Waldsassen. Festschrift zu dem 25jährigen Jubiläum des Erziehungs-Institutes in Waldsassen im Jahre 1890, Selb 1890.
Treml, Robert: Johann Baptist Giehrl – der erste Fotograf in Waldsassen (1822–1897), in: Waldsassener Anzeiger (2019) H. 11, unpag. (S. 13).