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Ein akustisches „Pozzo-Phänomen“ – barocke Raumkunst, nicht nur visuell

Scheinkuppel in der Klosterkirche Pielenhofen (Jacob Carl Stauder, 1721/22).
Scheinkuppel in der Klosterkirche Pielenhofen (Jacob Carl Stauder, 1721/22).

Erklingen in der Stiftsbasilika Waldsassen heute Haupt- und Chororgel gleichzeitig, so kann man wahrnehmen, dass sich die Klänge am besten in einer Zone zwischen beiden Instrumenten zueinanderfügen, weniger aber im äußersten Westen und Osten der Kirche. Kein Wunder bei einer Schallgeschwindigkeit von 370 m/s und einem Raum von rund 80 Metern Länge. Am Hochaltar kommt der Klang der Hauptorgel mit einer Verzögerung von einer Viertelsekunde an.

Ob beide Orgeln auch im 18. Jahrhundert gleichzeitig gespielt wurden, ist nicht überliefert. Eine Tatsache ist aber, dass barocke Kirchenmusik durchaus mit besonderen Raumwirkungen arbeitete. Das bekannteste Beispiel ist wohl die Mehrchörigkeit (entwickelt in der venezianischen Renaissance), im Zuge derer Musizierende an verschiedenen Stellen im Raum platziert wurden. Darauf ist gleich zurückzukommen.

Andrea Pozzo und die Folgen

Für die visuelle Sakralkunst im Barock war ein jesuitischer Laienbruder von ausnehmender Bedeutung: der Tridentiner Andrea Pozzo (1642–1709). Epochemachend waren nicht nur seine Fresken in Rom (Sant‘ Ignazio, 1685) und Wien (Jesuitenkirche, 1703), sondern auch sein Lehrbuch „PERSPECTIVA PICTORUM ET ARCHITECTORUM“, erschienen zuerst 1693. Das Kloster Ensdorf erwarb noch kurz vor der Säkularisation eine deutschsprachige Auflage von 1800, doch die Kenntnis dieses Werkes kann bei vielen Barockkünstlern vorausgesetzt werden.

Denn Pozzo war der Protagonist der Quadraturmalerei: Perspektivische Darstellungen an der Decke zeigen Scheinarchitekturen, durch die sich der Raum nach oben zu öffnen scheint und ein weiterer, darüberliegender „virtueller“ Raum sichtbar wird. Beispiele solcher Freskomalerei findet man auch immer wieder in den Klöstern der Oberpfalz, wie etwa die Scheinkuppel in der Kirche von Pielenhofen.

Das spektakulärste Beispiel in der Region wäre sicher die Speinsharter Klosterbibliothek, könnte man das dortige Fresko so sehen, wie es eigentlich konzipiert ist: von einem Standpunkt ein Stockwerk tiefer – geplant war eine zweistöckige Bibliothek mit umlaufender Galerie. Doch die entweder nicht ausgebrochene oder später wieder eingefügte Decke verhindert das. So erscheint das Bild an jeder Stelle im heutigen Bibliotheksraum völlig verzerrt, weil man ihm mehrere Meter zu nahe steht.

Das „Pozzo-Phänomen“

In der Kunstwissenschaft wird diese Wahrnehmung als „Pozzo-Phänomen“ bezeichnet: Nur an einem einzigen Punkt im dreidimensionalen Raum, in der Fachliteratur als „Punctus oculi“, „Punto stabile“ oder „Aug(en)punkt“ bezeichnet, fügen sich alle Fluchtlinien zu einem stimmigen Gesamteindruck, nur von hier aus ist das Bild wirklich perspektivisch richtig. In Sant‘ Ignazio ist diese Stelle eigens am Fußboden markiert.

Verlässt man sie, werden die Linien schief und die Figuren unproportioniert. Das Foto des Deckenfreskos in der Stiftskirche Frauenzell, das Wikimedia online bereitstellt, ist ein Beispiel dafür, ein anderes ein Deckenbild aus der Alten Kapelle in Regensburg.

In der Forschung wurde rege diskutiert, ob nach den Intentionen der Urheber nur die Betrachtung von dem einen Punkt aus vorgesehen war oder ob die Wahrnehmung der verzerrten Linien beim Umhergehen als erwünschter Teil einer prozessualen Rezeption zu gelten hat. Eventuell könnte ein Blick in die Musikgeschichte dazu beitragen, die Diskussion weiter zu beflügeln.

Ein musikalisches „Pozzo-Phänomen“

In diesem Zusammenhang ist nämlich ein musikalisches Phänomen von besonderem Interesse, auf das kürzlich der Geiger und Dirigent Gunar Letzbor aufmerksam machte. In der Anmoderation zu einer Aufschnaiter-Messe bei einem Konzert, das Anfang Juni in Linz stattfand, schilderte er die Erstaufführung von Heinrich Ignaz Franz Bibers „Vesperae à 32 für Soli, Chor und Orchester C-Dur“. Er hatte sie 1674 für den Salzburger Erzbischof komponiert und sie wurden im Dom mehrchörig gesungen und gespielt. Dabei gab es, so Letzbor, den Effekt, dass „nur im Zentrum, dort wo der Erzbischof gesessen ist oder gestanden ist, eine optimale Musik erklungen ist. Schon wenige Meter daneben war doch schon ein Kauderwelsch. Aber das war vollkommen egal, denn es ging um das Musizieren für Gott, und der Erzbischof war der Vertreter von Gott auf Erden.“

Man hatte es also mit einem regelrechten musikalischen „Pozzo-Phänomen“ zu tun. Angesichts der auch sonst in dieser Zeit viel praktizierten Mehrchörigkeit könnte es eine interessante Forschungsaufgabe sein, Kunst- und Musikgeschichte zu vereinen, um die performativen Züge barocker Raumnutzung und Rezeptionssteuerung in ihren Zusammenhängen noch besser kennenzulernen.

 

Lit. zu Andrea Pozzo:

Puteus, Andreas [= Pozzo, Andrea]: PERSPECTIVA PICTORUM ET ARCHITECTORUM [...], Rom 1693.

Pozzo, Andrea: Der Mahler und Baumeister Perspectiv, worinn gezeiget wird, wie man auf das allergeschwindeste und leichteste alles, was zur Architectur und Baukunst gehöret, ins Perspectiv bringen solle [...], Augsburg 1800 (Provinzialbibliothek Amberg: 999/Art. 16; Provenienz: Kloster Ensdorf).

Karner, Herbert (Hg.): Andrea Pozzo, 1642–1709. Der Maler-Architekt und die Räume der Jesuiten (Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse 436 / Veröffentlichungen der Kommission für Kunstgeschichte 11), Wien 2012.

 

Lit. zum Speinsharter Bibliotheksfresko:

Schrott, Georg: Die Bibliothek als Inszenierung und Aufführung – Ansätze einer performativen Deutung der Raumgestaltung in Amberg, Speinshart und Waldsassen, in: Artes – Kunst und Künste in Oberpfälzer Klöstern (in Vorbereitung).

Telesko, Werner: Summa Norbertina. Die Ausmalung der Bibliothek des Prämonstratenserklosters Speinshart (Oberpfalz) aus dem Jahr 1773, in: Armarium. Buchkultur in Oberpfälzer Klöstern. Symposion vom 3. bis 4. Juli 2015 veranstaltet von der Provinzialbibliothek Amberg (Hgg. Georg Schrott/Christian Malzer/Manfred Knedlik) Amberg 2016, 257–273.

 

Abb.:

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/12/Mariä_Himmelfahrt_Frauenzell_13.jpg

https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Mariä_Himmelfahrt_(Pielenhofen)?uselang=de#/media/File:Mariä_Himmelfahrt_-_Pielenhofen_017.JPG

https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Frescos_inside_Alte_Kapelle,_Regensburg?uselang=de#/media/File:00_2151_Regensburg_-_Alte_Kapelle.jpg

 

 

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